Ein kompakter Klassiker mit eigenem System: Die Agfa Karat 3.5

Zwischen 1936 und Mitte der 1950er-Jahre brachte Agfa eine ganze Modellfamilie unter dem Label «Karat» auf den Markt, die durch ihr handliches Design und ein neuartiges Kassettenfilmsystem auffiel. Mit diesem proprietären System verband Agfa seine Kompetenz in der Filmproduktion mit eigenen Kameramodellen und versuchte damit, sich gezielt von der Konkurrenz, insbesondere Kodak, abzugrenzen.

Die hier vorgestellte Agfa Karat 3.5 ist eine kompakte, solide gefertigte Kleinbildkamera aus einer frühen Phase der Baureihe. Eingeführt wurde sie 1937/38 und blieb in verschiedenen Varianten vermutlich bis 1949 auf dem Markt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Produktion, wie bei den meisten deutschen Kameraherstellern, unterbrochen.

Wer sich heute eine solche Kamera anschaffen möchte, sollte wissen, dass die Agfa Karat 3.5 mit einem speziellen Filmformat arbeitet, das heute nicht mehr erhältlich ist. Es gibt jedoch Möglichkeiten, handelsüblichen 135er Film zu verwenden. Auf die Details dazu gehe ich weiter unten im Beitrag ein.

Die Agfa Karat 3.5 steht mit ausgefahrener Ob jektivstandarte auf einer Mauer.

Ein kurzer Überblick

Die Front- und Rückseite sind nach aussen hin abgerundet, ein typisches Merkmal der Karat 3.5. So wird das Kameragehäuse, das im mittleren Bereich 3.6 cm in der Tiefe misst, nach aussen hin auf 1.5 cm verjüngt. Charakteristisch ist auch die versenkbare Objektiveinheit, die sich bei Nichtgebrauch der Kamera ins Gehäuse schieben lässt.

Die vorliegende Kamera stammt aus den Anfängen der Agfa Karat 3.5, was am gegossenen Aluminiumdeckel mit Ösen für die Befestigung eines Kameragurtes zu erkennen ist. Zudem sind frühe Kameras der Serie Karat 3.5 an der aufgeschraubten Blendenskala an der Objektivstandarte zu erkennen. Spätere Modelle hatten gestanzte Kameraabdeckungen und Blendenskalen auf dem Objektivring. Bei geöffneter Rückwand erkennt man links neben dem unteren Transportkranz die auf dem Kopf stehende Seriennummer. Dies ist ebenfalls ein Indiz, dass es sich um eine frühe Karat 3.5 handelt (JC’s Classic Camera Collection). Die Vergabe der Seriennummern auf die unterschiedlichen Modelle ist recht kompliziert und wird ebenfalls in JC‘s Classic Camera Collection im Detail erklärt.

Detailaufnahme der aufgeschraubten Blendenskala

Bei der Agfa Karat 3.5 handelt es sich um eine Sucherkamera, bei welcher der optische Durchsichtssucher mittig oben auf der Kamera sitzt. Der Suchereinblick ist mit 6 x 4 mm sehr klein, weshalb die exakte Motivwahl nicht ganz einfach ist. Jedoch zeigt der Blick durch den Sucher eine Raffinesse: Ist während der Bestimmung des gewünschten Bildausschnitts am unteren Sucherrand der Spannhebel sichtbar, so ist sofort klar, dass der Verschluss gespannt ist. Der Sucher hat keinen automatischen Parallaxenausgleich, zeigt also bei Nahaufnahmen nicht den korrekten Ausschnitt.

Detailaufnahme des optischen Durchsichtssucher der Agfa Karat 3.5

Auf der Oberseite befindet sich direkt rechts neben dem Sucher der Filmtransportknopf, und schräg davor an der vorderen Kante der Auslöser mit dem Riegel für Zeitaufnahmen. Auf der linken Seite der oberen Abdeckung liegt die Filmzählscheibe, deren Skala von A (Anfang) bis 12 reicht. Mehr Aufnahmen passten nicht auf den Filmstreifen einer Filmkassette. Mit dem Rändelrad im Zentrum lässt sich der Zählerstand auf Anfang stellen. Vor dem Filmzählwerk befindet sich der Entriegelungsknopf für die Frontplatte. Diese schnellt nach dem Drücken durch Federkraft nach vorne und wird dann oben und unten von horizontal verlaufenden Spreizen in Arbeitsposition gehalten. So, als Faltkamera konstruiert, ist die Agfa Karat 3.5 angenehm kompakt. Der Kamerakörper misst mit eingefahrenem Balgen lediglich 12 x 6.7 x 5 cm (L x H x T). Das Gewicht beträgt 440 Gramm.

Die Bedienelemente der Agfa Karat 3.5 auf der Kameraoberseite

Objektiv und Verschluss

Objektiv und Verschluss sind in der beweglichen Frontplatte montiert, die über einen Faltbalgen mit dem Kameragehäuse verbunden ist. Verbaut ist bei den Vorkriegsmodellen der Agfa Karat 3.5 das Objektiv Agfa Solinar mit einer Brennweite von 50 mm und einer Offenblende von 3.5. Abgeblendet werden kann bis Blende 32. Die hier vorgestellte Kamera wurde mit einem Compur-Verschluss geliefert, der beim Filmtransport nicht automatisch gespannt wird. Er ermöglicht Verschlusszeiten von 1 Sekunde bis zu 1/300 s sowie B. Mit dem Schiebehebel T auf der Kameraoberseite kann für Zeitaufnahmen der Auslöser in der Einstellung B in gedrücktem Zustand blockiert werden. So muss der Auslöser für lange Belichtungszeiten nicht dauernd gedrückt gehalten werden. Eine praktische Lösung, zumal kein Anschluss für einen Kabelauslöser vorhanden ist, der sich allenfalls arretieren liesse.

Detailaufnahme von Compur-Verschluss und Solinar Objektiv der Agfa Karat 3.5

Laut meinen Quellen wurde nach dem Krieg das kostengünstigere Objektiv Apotar 3.5/5 cm verbaut. Bei den Verschlüssen gab es stets mehrere Ausstattungsvarianten. Sylvain Halgand zeigt auf seiner Website collection-appareils.fr anhand verschiedener historischer Kataloge Auszüge zur Agfa Karat. Daraus werden verschiedene Konfigurationen der Agfa Karat 3.5 ersichtlich. So bietet Photo Porst im Jahr 1938 neben dem Compur-Verschluss auch eine Variante mit Compur-Rapid an. Beide Ausführungen wurden mit dem Solinar-Objektiv verkauft.

Als Besonderheit, die ich bisher nur auf einem Bild einer Agfa Karat 3.5 auf den archivierten Seiten von die-Karat.de gesehen habe, ist eine nachgerüstete Blitzanschlussbuchse direkt beim Spannhebel des Verschlusses zu erwähnen.

Die nachgerüstete Blitzsynchronisationsbuchse meiner Agfa Karat 3.5 im Detail.

Die Karat Filmpatronen

Die Agfa Karat 3.5 nutzte ein proprietäres Kassettensystem, das grundsätzlich auf dem Kleinbildfilm basiert. Die spezielle Karat-Filmkassette fasste jedoch nur 12 Aufnahmen statt der üblichen 36. Agfa argumentierte, dass dies dem «Tagesbedarf» eines Familienfotografen entspreche und verhindere, dass Filme monatelang unentwickelt in der Kamera verblieben. Der belichtete Film wurde automatisch in eine zweite Patrone transportiert, wodurch das Zurückspulen eines belichteten Films entfiel. Bei versehentlichem Öffnen der Kamerarückwand wurde zudem nur der Bereich zwischen den Patronen belichtet – die bereits gemachten Aufnahmen und der noch unbelichtete Teil des Filmstreifens blieben unversehrt.

Im Vordergrund stehen eine Agfa Karat- und eine Agfa Rapid-Kassette.

Später entwickelte Agfa die Rapid-Kassette, die technisch auf der Karat-Patrone aufbaut. Diese neue Variante war jedoch zusätzlich mit einer mechanischen Codierung der Filmempfindlichkeit versehen. Die Agfa Karat 3.5 kann diese Codes nicht lesen, Rapidpatronen lassen sich aber dennoch verwenden.

Karat- und Rapidkassetten sind heute nicht mehr erhältlich. Wer über leere Kassetten verfügt, kann sie mit etwas Geschick selbst mit Kleinbildfilm bestücken und seine Kamera wieder nutzen. Eine detaillierte Anleitung dazu gibt es bei Art Deco Cameras. Ich selber schiebe im Wechselsack Filmstreifen von 60 cm Länge in Karat- oder Rapid-Patronen. Dies reicht für die 12 Aufnahmen. Wenn ich beim Fotografieren am Schluss den Film bis auf einen Strich vor der Anfangsposition «A» der Zählscheibe transportiere, ragt noch ein passendes Stück des Filmstreifens aus der Aufnahmepatrone. Damit die Emulsion nicht beschädigt wird, trage ich beim Laden der Kassetten Baumwollhandschuhe.

Den Film einlegen

Das Versprechen, dass die Karat-Patronen ein spielend einfaches Einlegen des Films ermöglichen, löst Agfa ohne Zweifel ein. Zum Laden öffnet man zunächst die Rückwand der Kamera, indem man den Verschlussriegel unten auf der linken Seite der Kamera nach unten zieht. Die Rückwand springt auf und gibt das Kamerainnere frei. Im nächsten Schritt werden die beiden Filmführungsklappen hochgeschwenkt. In die linke Kammer kommt die geladene Filmkassette, in die rechte Kammer die leere. Beide Kassetten sollten mit der Aufschrift «Agfa» oder «Rapid» nach oben zeigen. Anschliessend zieht man den Film vorsichtig aus der linken Kassette heraus und legt ihn so ein, dass er über die Filmführung zur rechten Kassette läuft. Dabei muss der Film korrekt über die Transportzahnräder geführt werden. Ich selber schiebe den Filmstreifen noch leicht in die leere Kassette. Danach werden die kleinen Führungsklappen geschlossen und die Rückwand der Kamera wieder verriegelt.

Die Agfa Karat 3.5 mit geöffneter Rückwand. Der Film wurde bereits belichtet und in die rechts liegende Kassette geschoben.

Mit einer Fingerkuppe wird nun die Zählscheibe auf die Stellung «A» gedreht. Die Kamera ist somit einsatzbereit. Der Film muss jetzt noch auf die Aufnahmeposition «1» transportiert werden. Dazu wird der Verschluss gespannt, der Film mit dem Transportknopf weitergespult und zuletzt der Auslöser betätigt. Dabei gleitet der Filmstreifen in der Kamera automatisch in die leere Karat-Kassette.

Die Agfa Karat 3.5 in der Praxis

Angenehm handlich ist die Agfa Karat 3.5 schon. Das macht sie zur praktischen Begleiterin auf Fototouren. Doch wie lässt sie sich bedienen? Und wie gut sind die Ergebnisse?

Schnell ist die Kamera einsatzbereit. Durch Drücken des Entriegelungsknopfes auf der Kameraoberseite springt die Objektivstandarte sofort nach vorne und hält das Objektiv samt Verschluss in der Arbeitsposition. Die korrekten Belichtungswerte werden mit einem externen Belichtungsmesser oder einer App auf dem Smartphone ermittelt. Das Einstellen der gewünschten Verschlusszeit gestaltet sich einfach, während die Wahl der Blende mit dem seitlich am Verschluss angebrachten Schieber etwas fummelig ist.

Wie bei Sucherkameras üblich, ist das Einstellen der Aufnahmedistanz herausfordernd. Wer sich da nicht so sicher fühlt, fotografiert am besten mindestens mit Blende 8. Ich vermute, dass die Karat 3.5 eher für Familien- und Ferienfotos genutzt wurde. In diesem Kontext konnte auf eine bewusst knapp gewählte Tiefenschärfe wohl gut verzichtet werden. Berichte zur Qualität des Agfa Solinar Objektivs weisen zudem darauf hin, dass die Bildschärfe ab Blende 8 deutlich besser ist als bei weit offener Blende.

Die Agfa Karat 3.5 verfügt über eine Doppelbelichtungssperre. Bevor nach dem Spannen des Verschlusses ausgelöst werden kann, muss der Film mit dem grossen Filmtransportknopf zur nächsten Aufnahme gespult werden. Der Transportknopf kann zwar gut mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gefasst werden, lässt sich mit eingelegtem Film jedoch nur schwer drehen. Der Film wird ja nicht in eine Aufnahmespule gezogen, sondern durch die Transportkränze in die leere Kassette geschoben. Dies funktioniert technisch allerdings zuverlässig.

Der optische Sucher ist, wie schon in der Einleitung beschrieben, sehr klein. Es ist daher herausfordernd, schnell den gewünschten Ausschnitt zu bestimmen. Aber auch hier gilt vermutlich: Für den Einsatz dieser Kamera im persönlichen Umfeld spielte das wohl keine grosse Rolle.

Unter heutigen Umständen erscheint die Ausbeute an Bildern im Vergleich zu einem Kleinbildfilm mit 36 Aufnahmen äusserst bescheiden. In der Archivtasche stecken nach der Filmentwicklung gerade mal zwei Streifen mit je sechs Aufnahmen. Die Abstände zwischen den einzelnen Bildern sind regelmässig, aber sehr eng.

Zur Illustration der erzielbaren Bildqualität gibt es unten eine Galerie mit einer Auswahl von Beispielfotos. Diese wurden auf Kentmere 100 belichtet und mit Rodinal 1+25 während 9 Minuten bei 20 °C entwickelt. Die Bilder sind bei gutem Licht für eine Kamera aus den 1930er-Jahren gut, aber nicht herausragend. Vor allem Stadtansichten und Landschaften ergeben bei nicht zu gleissendem Sonnenlicht und mit Blende 8 oder 11 aufgenommen schöne Ergebnisse. Das Bild vom Flohmarkt zeigt deutlich, dass die Agfa Karat 3.5 keine Kamera für schnelle, spontane Szenen ist. Sogar wenn Blende und Verschlusszeit schon angepasst sind, dauert das Einstellen der Distanz und die Wahl des Auschnitts meist zu lang.