Voigtländer Vitessa T – Systemkamera mit Charakter

Schon beim ersten Blick auf eine Kamera aus der Vitessa-Reihe von Voigtländer war meine Neugier geweckt. Es handelte sich um die Klappversion, eine Faltkamera, bei der das Objektiv im geschlossenen Zustand von zwei seitlich angebrachten Klappen geschützt wird. Besonders ins Auge fiel mir der ungewöhnliche Metallstift, der oben aus dem Gehäuse ragt, eine Konstruktion, die ich so noch nie gesehen hatte. Diese Kombination aus technischer Raffinesse und ungewöhnlichem Design faszinierte mich vom ersten Moment an.

Voigtländer Vitessa T auf einer Mauer fotogrfiert.

Die gesamte Modellreihe

Zwischen 1950 und 1960 produzierte Voigtländer in Braunschweig insgesamt fünf grundlegende Modelltypen der Vitessa. Vier dieser Varianten verfügten über eine sogenannte Scherenspreizen-Mechanik, mit der das fest verbaute Objektiv in das Kameragehäuse eingeklappt werden konnte. Dadurch entstanden besonders kompakte Kleinbildkameras,  ideal für den mobilen Einsatz. Die hier vorgestellte Vitessa T war Voigtländers Antwort auf den wachsenden Markt für Systemkameras mit Wechselobjektiven. Sie wurde 1956 an der Photokina präsentiert und blieb bis 1960 im Sortiment.
Eine eindeutige Systematisierung aller Vitessa-Modelle gestaltet sich jedoch schwierig. Während der Produktionszeit nahm Voigtländer immer wieder kleinere Änderungen vor, was zu zahlreichen Untervarianten führte. In der Fachliteratur und auf spezialisierten Websites finden sich deshalb unterschiedliche Klassifizierungssysteme: Ein verbreitetes System verwendet Buchstaben (camera-wiki.org), ein anderes basiert auf internen Typennummern von Voigtländer, wie sie etwa im Carl Zeiss Kamera-Register 1902–2012 von Bernd K. Otto dokumentiert sind.
Das Modell, auf das sich dieser Blogbeitrag konzentriert, lässt sich jedoch klar zuordnen: Es trägt auf der Oberseite deutlich sichtbar die Aufschrift «Vitessa T».

Bedienelemente und Funktionen

Doch was bietet die Voigtländer Vitessa T den Fotografinnen und Fotografen? In diesem Abschnitt geht es zunächst um das äussere Erscheinungsbild der Kamera, bevor weiter unten einzelne Elemente und Funktionen im Detail erläutert werden.
Das Gehäuse besteht aus Aluminium-Druckguss, wirkt hochwertig verarbeitet und bringt dementsprechend ein Gewicht von 790 g auf die Waage. Da sich das Objektiv nicht versenken lässt, ist die Vitessa T deutlich grösser als die übrigen Modelle der Serie. Charakteristisch ist der vorstehende Tubus auf der Frontseite, auf dem der Synchro-Compur-Verschluss montiert ist. Dieser dient zugleich als Träger für die Wechselobjektive, die per Bajonett-Anschluss befestigt werden.
Am oberen Ende der Kamerafront sind, von links nach rechts, das Lichtfenster des Selen-Belichtungsmessers sowie die beiden Fenster des Messsuchers angeordnet. Unter dem Messsucher befinden sich in einem rechteckigen Fenster das Bildzählwerk und die Filmmerkscheibe.

Zum Datenblatt der Vitessa T…

Ein praktisches Detail ist der ausschwenkbare Stützfuss auf der Unterseite des Tubus, ergänzt durch einen etwas geheimnisvoll wirkenden Knopf, dessen Funktion weiter unten noch näher erläutert wird. Die Vitessa T wurde in zwei Varianten produziert: mit und ohne Tragösen für einen Kameragurt. Beide Versionen scheinen zeitgleich erhältlich gewesen zu sein (Quelle).
Auf der Oberseite der Kamera befindet sich mittig ein Zubehörschuh. Für die automatische Blitzauslösung ist ein Blitzkontakt im Tubus verbaut, und zwar rechts neben dem Verschluss (von vorne gesehen). Auf dem Kamerarücken sind weitere Bedienelemente zu finden: die sogenannte Combitaste, der Auslöser mit Gewinde für einen Drahtauslöser, sowie die Anzeige des integrierten Belichtungsmessers.
Auf der Unterseite der Kamera befinden sich das Stativgewinde sowie die Bedienelemente zum Einlegen und Rückspulen des Films. Auch diese Funktionen werden in einem späteren Abschnitt noch detailliert beschrieben.

Die einzigartige Combitaste

Ein besonderes Erkennungsmerkmal aller Vitessa-Modelle ist die sogenannte Combitaste, ein etwa 3,5 cm hoher Metallstift, der oben aus dem Kameragehäuse herausragt. Sie erfüllt gleich mehrere Funktionen: Mit einem einzigen kräftigen Druck auf diesen massiven Stift wird der Film weitertransportiert, der Verschluss gespannt und das Bildzählwerk um eine Position weitergeschaltet.
Der dahinterliegende Mechanismus ist technisch raffiniert und so in keiner anderen Kamerareihe zu finden. Wird die Combitaste nur teilweise heruntergedrückt, rastet sie rund einen Zentimeter oberhalb der Kameraoberseite ein. Dabei wird der Auslöser blockiert und die Vitessa lässt sich dann problemlos in einer Tasche verstauen.

Die Combitaste der Vitessa T im Detail.

Der Messsucher

Die Vitessa T verfügt über einen Messsucher. In der Bildmitte erscheint ein helles Messfeld, in dem sich bei unscharfer Einstellung doppelte Konturen zeigen. Durch Drehen des Fokussierrings mit dem Rändelgriff, der unten am Objektiv angebracht ist, bringt man diese Konturen zur Deckung. Die Entfernung ist damit präzise eingestellt. Im Querformat helfen senkrechte Linien beim Scharfstellen, im Hochformat waagerechte. Der Bildausschnitt bleibt auch im Nahbereich von 1 bis 2 Meter korrekt, da die Kamera die Parallaxe automatisch ausgleicht.

Abbildung aus der Anleitung zur Vitessa T

Der Belichtungsmesser

Die Vitessa T verfügt über einen nicht gekuppelten Belichtungsmesser, der von Betram hergestellt wurde. Dieser setzt sich aus zwei Hauptkomponenten zusammen: Auf der Kamerafront ist die Selenzelle als schmaler, länglicher Streifen sichtbar. Es existieren zwei Varianten der Oberfläche dieses Lichtfensters: entweder genoppt oder glatt, je nach Produktionsserie.

Die zwei unterschiedlichen Oberflächen des Lichtfensters im Detail.

Die übrigen Elemente des Belichtungsmessers befinden sich rechts oben auf der Kameraoberseite. Von links nach rechts sind dort eine Einstelltabelle, eine Zahlenwalze mit Lichtwerten sowie eine Skala mit einer Messnadel angeordnet.
Normalerweise wird eine Objektmessung durchgeführt, also das vom Motiv reflektierte Licht gemessen. Laut der originalen Bedienungsanleitung wurde jeder Vitessa T eine aufsteckbare Diffusorscheibe beigelegt. Mit ihr kann alternativ eine Lichtmessung durchgeführt werden. Dazu wird die Scheibe auf die Selenzelle gesteckt, und die Messung erfolgt vom Motivstandort aus in Richtung späterer Kameraposition.
Für eine Messung wird zuerst die Filmempfindlichkeit anhand der Einstelltabelle eingestellt. Am oberen Rand der Tabelle ist jedem ASA-Wert ein Buchstabe zugeordnet. Dieser Buchstabe wird mithilfe des Drehrads auf der Kamerarückseite auf die Zahlenwalze übertragen. Die Messung erfolgt dann über den Zeiger der Skala. Zeigt dieser beispielsweise auf einen bestimmten Bereich, lässt sich der entsprechende Lichtwert direkt von der Walze ablesen. Dieser Wert wird zuletzt dann manuell am Objektiv eingestellt.

Die beschriebenen Details des Belichtungsmessers in einer Nahaufnahme

Die Wechselobjektive für die Vitessa T

Die Wechselobjektive der Voigtländer Vitessa T nutzen die erste Version des DKL-Bajonetts, das einen schnellen und sicheren Objektivwechsel ermöglicht. Beide meiner Vitessa T-Kameras sind mit dem Standardobjektiv Color-Skopar 1:2,8/50 mm ausgestattet. Ergänzend waren ein Weitwinkelobjektiv Skoparet 1:3,4/35 mm sowie ein Teleobjektiv Dynaret 1:4,8/100 mm erhältlich. Alle drei Objektive sind mit dem Messsucher gekoppelt. Nach dem Aufsetzen erfolgt die Übertragung der Entfernungseinstellung automatisch. Das kameraseitige Bajonett ist direkt in die Vorderseite des Verschlusses integriert.
Der Objektivwechsel gestaltet sich unkompliziert. Zum Abnehmen eines Objektivs wird zuerst der kleine Rasthebel unten am Verschluss gedrückt. Anschliessend zieht man den kombinierten Lichtwert-/Blendenring leicht nach vorne und dreht das Objektiv gegen den Uhrzeigersinn, bis es sich abnehmen lässt. Das neue Objektiv wird dann so angesetzt, dass die rote Punktmarke auf dem Objektivtubus mit der Indexmarke der Zeitskala auf dem Verschluss übereinstimmt. Durch Drehen im Uhrzeigersinn rastet das Objektiv deutlich spürbares ein.

Das Objektiv ist abgenommen und steht vor dem Kameragehäuse. Somit ist der DKL-Mount gut sichtbar.

Den Film einlegen

Bevor mit der Vitessa T fotografiert werden kann, muss ein 35-mm-Film eingelegt werden. Zum Öffnen der Rückwand wird der Gehäuseriegel am Kameraboden hochgeklappt, auf «Off» gedreht und die Rückwand vorsichtig nach unten geschoben.
Dann wird die Filmlasche unter die Haltefeder der Aufnahmespule geschoben. Dabei ist darauf zu achten, dass die Perforation des Films korrekt in den integrierten Zahn der Haltefeder einrastet. Anschliessend wird die Filmpatrone über die Filmebene hinweg nach rechts gezogen und in die Patronenkammer eingesetzt. Entscheidend ist, dass der Transportmechanismus sauber in die Filmperforation greift, da sonst der Film nicht zuverlässig weitertransportiert wird.
Bevor die Rückwand wieder aufgesetzt wird, sollte das Bildzählwerk an der Vorderseite der Kamera justiert werden. Mit geschlossener Rückwand ist dies nicht mehr zugänglich. Dazu wird die Scheibe so weit gedreht, bis die kleine Raute mit dem roten Pfeil auf dem Gehäuse übereinstimmt.

Die Vitessa T mit geöffneter Rückwand

An der Innenseite der Rückwand befindet sich ausserdem eine kleine Merkscheibe, mit der die verwendete Filmsorte zur Erinnerung eingestellt werden kann. In der heutigen Zeit mag dieses Detail mit den verwendeten Codes wenig praktische Bedeutung haben. Für alle, die es dennoch interessiert, folgt dennoch eine Aufschlüsselung der verwendeten Buchstaben:

UR Schwarzweiss Umkehrfilm
TD Farb-Umkehrfilm für Tageslicht
KA Farb-Umkehrfilm für Kunstlicht
TND Farb-Negativfilm für Tageslicht
KNA Farb-Negativfilm für Kunstlicht
N Schwarzweiss Negativfilm

Nun kann die Rückwand der Kamera wieder geschlossen und verriegelt werden. Danach muss das Bildzählwerk auf «0» gestellt werden. Dafür wird zunächst die versenkte Combitaste kurz gedrückt, sodass sie in ihre Gebrauchsstellung zurückkehrt. Anschliessend schiebt man den Entsperrknopf unten am Tubus nach hinten und hält in in dieser Stellung, während die Combitaste zweimal betätigt wird. Die Zählscheibe springt dabei in die Ausgangsposition und zeigt «0» und die Kamera ist für erste Aufnahmen bereit.
Ob der Film korrekt eingelegt wurde und zuverlässig transportiert wird, lässt sich an der kleinen roten Markierung auf der Achse der Rückspulkurbel erkennen, die sich auf der Bodenplatte der Kamera befindet. Beim Betätigen der Combitaste sollte sich diese Markierung sichtbar mitdrehen.

Belichtete und teilbelichtete Filme

Bevor ein belichteter Film in die Patrone zurückgespult werden kann, wird zunächst der kleine Knopf an der Unterseite der Kamera kurz gedrückt. Anschliessend klappt man die Rückspulkurbel aus und dreht sie in Pfeilrichtung. Während des Rückspulvorgangs bewegt sich die Bildzählscheibe mit. Sobald sie stehen bleibt, ist der Film vollständig in die Patrone gespult. Nun kann die Rückwand geöffnet und die Filmpatrone entnommen werden.
Mit der Vitessa T lassen sich auch teilbelichtete Filme problemlos entnehmen und zu einem späteren Zeitpunkt weiterverwenden. Vor dem Rückspulen sollte man sich dazu die zuletzt angezeigte Bildnummer merken. Der Film wird dann wie gewohnt zurückgespult. Wenn möglich sollte die Filmlasche nicht vollständig in der Patrone verschwinden. Sollte dies doch geschehen, muss sie später mit einem Filmrückholer wieder herausgezogen werden.
Beim späteren Wiedereinlegen geht man wie beim normalen Filmeinlegen vor. Um den Film wieder korrekt auf die zuletzt belichtete Bildposition einzustellen, wird der Sperrknopf auf der Unterseite des Verschlusses nach hinten geschoben. Danach wird die Combitaste so oft vollständig gedrückt, bis die Bildzählscheibe wieder die zuvor notierte Zahl erreicht. Nun wird der Sperrknopf losgelassen und die Combitaste ein weiteres Mal betätigt, womit die Kamera bereit für die Fortsetzung der Aufnahmen ist.

Fazit

Wer sich auf die Voigtländer Vitessa T einlässt, wird mit einer ungewöhnlichen, aber sehr durchdachten Kamera belohnt. Besonders die Bildqualität, die sich mit dem Color-Skopar erzielen lässt, hat mich immer wieder positiv überrascht. Wer gerne mit analogen Klassikern arbeitet und offen für ein etwas anderes Bedienkonzept ist, sollte der Vitessa T unbedingt eine Chance geben.